Zeitfenster

Noch im Februar 2020 notierte ich Gedanken zu einer Geschichte über Menschen und ihre knapper werdende Zeit. Mein unsichtbarer Gegenspieler gewann längst an Macht, was ich nicht ahnte. Meine Aufzeichnungen stehen in drei Notizbüchern, auf dreißig losen Blättern, in einer Word-Datei:

 

Die Häuser, Bäume und Wiesen liegen unter einem Frostmantel. Eine Schlange aus grauen Karossen wälzt sich durch die Hauptstraße. Der Himmel ist zartrosa überhaucht, aber das sehen die Leute in den Autos nicht, weil ihre Blicke am Asphalt kleben. Rauchsäulen steigen aus den Kaminen, wie Weihrauch einst in Kirchenkuppeln schwebte, wie um Gnade flehende Gebete zum Himmel drangen, egal ob er rosa oder grau war.

 

Die eine Sorte Menschen, so kommt es mir vor, trägt unsichtbare Krönchen zum Designerkleid, sogar zur ganz normalen Klamotte. Sie stürzen sich ans Büffet, schubsen einer den anderen, langen quer hinüber zu den Garnelen, dass dem Nachbarn das Hackfleischbällchen vom Teller rollt. Mamas Prinzen drängeln dort und Papas Lieblinge. »Ich komme zuerst.«

Bei der anderen Sorte handelt es sich wohl um die Vernachlässigten. Nicht verwahrlost sind sie, aber im Herzen mutterseelenallein. Sie müssen nachholen, was nachzuholen ginge, fiele es nicht durch sie hindurch. »Jetzt – endlich – komme ich.«

 

Auf dem Supermarktparkplatz fuhr ein Mann den anderen mit dem SUV tot, weil dieser ihm zuvor den noch leeren Einkaufswagen entrissen hatte.

 

Darüber hatte ich schreiben wollen, dass uns die Menschlichkeit verloren geht. Dass wir glauben, makellos sein zu müssen. Dass wir bluffen. Aus Angst. Vor dem Tod.

Selbst die Nacht, diesen Zeiträuber, hatte man besiegen wollen. Von riesigen Segeln hätten die Sonnenstrahlen eingefangen werden sollen, um den Tag zu verlängern. Wach bleiben. Kaufen. Aus technischen Gründen musste es bei der Nacht­beleuchtung der Städte bleiben.

In den USA und in Japan wurden Verstorbene im Rahmen von Express-Beerdigungen unter die Erde gebracht. Schnell, dynamisch, effizient. Eine letzte, rasche Ehre den Karōshi-Opfern.

Kronos, mythologisch der Herrscher der Welt, fraß seine Kinder. Ich stelle mir vor, wie er in seinem Garten, einem Irrgarten, umherwanderte. In dessen Mitte lag ein steinernes Herz.

 

Neben den Nutzbringenden gibt es die Träumer: Poeten, Musiker, Maler, Gärtner und alle anderen Gedankenversunkenen. »Die leben doch in einer anderen Welt.« Das müssen sie sich anhören. »Schon erstaunlich, wie weit weg von der Realität die sind.« Überhebliches Lächeln. »Schon krass, was bei denen für Filme ablaufen.«

Die Träumer leben in Innenwelten voller Schönheit um ihrer selbst willen, sind gefährdet wie Insekten in Steingärten.

 

Die Nützlichen hasteten und rangen, und sie hungerten in ihren Seelen. Als schnappten Maschinen mit scharfen Zähnen nach ihnen. Als sollten sie, erst verschlungen, als Brennstoff dienen. Hatte aber ein Mensch noch den Geruch eines Veilchens, einer Rose, einer Holunderblüte in sich, mochte er davonkommen. Solche Düfte konnten ihn als ungeeignet ausweisen, als einen, der seinen Fokus folgendermaßen ausrichtete: Auf einem Grashalm, ganz oben, an der höchsten Stelle, wo er sich neigt, um an der Spitze ganz leicht zu kippen, dort, ganz auf dem Gipfel, liegt ein Tautropfen und lässt sich wiegen. Er glänzt in der Sonne, sieht aus wie eine kleine, gläserne Kugel. Ich möchte ihn beobachten und sehen, was ihm geschehen wird, ob ein Windhauch den Grashalm drücken wird, bis der Tropfen hinunterrollt und fällt. Aber der leise Wind lässt ihn jetzt schillern. Erfüllungsmoment. Der eine Tropfen ist der Zauber dieses Stückchens Wiese im Winterschlaf. Keine ähnlichen Tropfen weit und breit. Für einen Moment wende ich den Kopf zum Bagger, der weiter oben lärmend das alte Krankenhaus abreißt. Ich suche mit den Augen die Halme ab. Der Tropfen ist fort.

 

Bis zur Kontaktsperre durch Corona existierten die Träumer meist unbemerkt mitten unter denen, die ein stromleitendes Fitnessprogramm absolvierten in einer Bodystreet, die schnellen Zugriff hatten, die Espresso tranken statt Cappuccino.

 

Ein an Wissen, Geld und Einfluss reicher Mann prüfte im Stillen alles, was in seiner Gegenwart geäußert wurde, auf den Richtigkeitsgehalt hin. In Windeseile tat er das. In seinem Kopf. Worin konnte er seinen Sohn korrigieren? Was ergänzen? Worin seine Frau verbessern? Unzulänglich fühlte sich jeder neben ihm, wie mit Scheinwerfern beleuchtet, wie auf dem Prüfstand. Leistung war zu erbringen. In jedem Augenblick. Seine Gesichtsfalten schienen trockener tief zu werden als bei anderen, sahen aus, als bröckle verwittertes Material von ihnen ab. Auch wurde er grau im Gesicht, fand sein Sohn.

 

Die Träumer sitzen auf der Bank und schauen in die Ferne, essen zu Mittag, ohne dabei zu skypen, sind langsam, statt schnell. Sie halten die Ruhe aus. Die Entscheidungsgewalt darüber, wie sie mit ihrer Zeit umgehen, liegt bei ihnen selbst. Sie leben im Wohlstand. In ihren inneren Schließfächern lagern sie Zeit ein wie andere Gold in Tresoren. Nachts träumen auch sie von Salamandern und Eichhörnchen und einer Schlange, die sich plötzlich aufwickelt und aufbäumt, die heller wird und das Maul aufreißt, um anzugreifen. Aber die Träumer stopfen der Schlange die überdimensionierte Eistüte ins Maul, die sie in ihrer Hand halten.

 

Im März strich mir das Coronavirus SARS-CoV-2 alle Notizen in den drei Heften, auf den dreißig Zetteln und in der einen Datei und schrieb die Geschichte über die Zeit selbst. Corona wirft die einen wie die anderen auf sich zurück. Die Menschen, die nicht um ihr eigenes Leben kämpfen oder um das von anderen, um ihre Existenz, sitzen nun da, finden Zeit für das Schillern eines Tautropfens, für Gänseblümchenketten, Puddingkochen. Seltener fallen die Worte: Mach schneller! Corona reißt ein Zeitfenster für jene auf, die es verschont. Denen sagt es: Lass los, und sieh den Menschen an, der neben dir sitzt. Und die Angesehenen glauben sich womöglich auf einmal geliebt für das, was sie sind, und säßen sie auch nur da und spielten Klavier. Unerwartet ist Platz am Rande des Getriebes, ist Zeit für Steinschmelze ohne Druck, für Spaziergänge zu vergessenen Quellen.

Corona hält das Hamsterrad der Zeit an und offenbart uns den Tod, der uns immer bedroht, obwohl wir es nicht merken woll(t)en.

 

Der Mann, der vieles wirklich besser weiß, tastet morgens im Bett nach der Hand seiner Frau und sagt: »Wir haben wieder einen Tag. Wieder einen Tag …« Zum ersten Mal hoffen sie beide auf die Ewigkeit. Zum ersten Mal deckt der Mann den Frühstückstisch. Und als seine Frau, während sie ihr Brötchen aufschneidet, schon wieder denselben Fehler macht – der Virus – korrigiert er sie nicht. Er lächelt sie an in ihr gealtertes Gesicht hinein, als sähe er sie zum ersten Mal und denkt, was er noch nie gedacht hat: Vor Gott, wenn es ihn denn gibt, hat sie die gleiche Würde.

 

Zwei Wochen später, als er noch hat sprechen können, fragte er seine Frau flüsternd: »Habe ich Hoffnung auf die Ewigkeit oder ist morgen oder schon heute wirklich alles aus?« Viel mehr als ihre nassen Augen sieht er nicht von ihrem Gesicht.

 

Seit der Beerdigung des Mannes kommt sein Sohn täglich gemäßigten Schritts zum Grab. Er trägt Tarnfarben. In der Abenddämmerung ist er gegen das fahle Gras des Monats März schwer zu erkennen. Seine Schultern sind hochgezogen, die Hände in den Manteltaschen, der Kopf zum Grab hin gesenkt. Er dreht sich nicht um nach Vorbeigehenden, ignoriert den Wind, die graue Kappe bis über die Augenbrauen geschoben. Reglos steht er da. Von dürren Ästen halb verdeckt. Heute findet er dort keine Andacht. Laufend kommt jemand zum frischen Grab nebenan oder geht von dort weg. Der Sohn geht zur Querseite des Grabes seines Vaters, bückt sich und setzt eine Blumenschale zurecht. Dann steht er wieder an der alten Stelle. Er holt ein Taschentuch hervor, putzt sich die Nase, wischt sich die Augen. Woran erinnert er sich? An ihre gemeinsamen glücklichen Tage? Wie viele davon hat es gegeben? Denkt er an den zuletzt so geschundenen Körper des Vaters, den niemand mehr sehen durfte, bis auf vermummtes medizinisches Personal? Quält den Sohn noch immer die Frage, ob er dem Vater je genügt hat?

Der Sohn geht fort wie mit Lasten auf den Schultern. Er macht noch einen Spaziergang im Fürstengarten. Das hätte schon früher ein Wert sein sollen, als er und sein Vater am Leben miteinander vorbeigerast sind.

 

Corona bringt Verzweiflung, Schmerz und Tod. Es hat die Worte hervorgeholt: teilt, beschränkt, macht langsam, seid gnädig. Und es hat mir meine Geschichte vermasselt. Diese sollte von Träumern und ihren Lehrern handeln. Das sind die älteren Träumer mit den fleischigen Falten. Schon vor dem mordenden Lehrer Corona sagten sie: »Schwingt euch in eure Träume ein. Und dann geht hinaus und dient den Menschen.«

 

 

Jetzt, Corona, nehme ich mir die Zeit, eine neue Geschichte über die Zeit zu schreiben.