Die Leseprobe

Nina sitzt im TGV nach Paris und wirft einen Blick nach draußen durch das Abteilfenster, an dem oben steht: Laissez-vous rêver. Träumen. In größter Eile rennt eine mondän aussehende, nicht mehr ganz junge Frau den Bahnsteig entlang. Ihr braunes Haar weht nach allen Seiten. Der schwarze Koffer, den sie hinter sich herzieht, wackelt und droht umzukippen. Doch er fängt sich wieder. Der Gürtel flattert zu beiden Seiten des langen, offenen Tweedmantels. Die schwarze Umhängetasche rutscht ihr von der Schulter, und sie schiebt den Henkel im Laufen wieder hoch. Ein Schaffner wedelt mit dem Arm. Nina hält den Atem an, fragt sich, ob er die Frau noch einsteigen lässt.

Die Frau rennt noch schneller, hält den Taschenhenkel fest umklammert, dann verliert Nina sie aus dem Blick. Die Tür des Zuges piepst gleichgültig und schließt sich kurz darauf mit einem Ruck. Der Schaffner trillert mit der Pfeife und hebt die Kelle. Der TGV nach Paris setzt sich in Bewegung.

Schwer atmend taucht die Frau am Eingang zu Ninas Großraumabteil auf und bleibt kurz stehen. Sie ringt nach Luft und versucht, sich zu orientieren. Nina kann ihr direkt ins Gesicht sehen. Langsam kommt die Keuchende den Gang entlang in Ninas Richtung.

Ihre Augen sind so hellblau, wie das Wasser in einem Glas sich färbt, wenn nur ein Tropfen Königsblau vom Pinsel tropft. Ganz durchsichtig wirkt die Iris. Das schwarze Brillengestell und der dicke Lidstrich verleihen ihrer Erscheinung etwas Hartes, Maskulines. Es steht in krassem Gegensatz zum leichten Farbhauch ihrer Iris. Ihre Kleidung wirkt formstreng. Wie die von Mutter, denkt Nina. Unter dem geöffneten Mantel zeigt sich eine Hemdbluse und eine Tuchhose mit Bügelfalte und leicht ausgestellten Hosenbeinen. Das braune, hervorragend geschnittene Haar liegt in weichen Wellen um das helle Gesicht.

Nina ist gefesselt von ihrem Anblick, bemüht sich aber, die Frau nicht anzustarren, sondern nur kurze, wie zufällig wirkende Blicke in ihre Richtung zu schicken.

Nach ihrem Sitzplatz suchend, kommt die Mitreisende näher. So war ich mal, denkt Nina, eine Karrierefrau. Das ist mein früheres Selbst. Ich hätte mich nicht angezogen wie sie, aber damals habe ich etwas Ähnliches ausgestrahlt. Ihr fallen alte Mantras ein: Den Graben zwischen Entschluss und Ausführung schmal halten. Die Umstände, die man braucht, selber schaffen. Kühn handeln. Machen, nicht nur planen. Mehr arbeiten, als die anderen.

Direkt hinter Nina bleibt die Fremde stehen, wechselt ein paar Worte auf Französisch mit einem Mitreisenden und setzt sich auf den Platz hinter Nina. Knisternd packt die Frau etwas aus oder ein.

Der Duft nach Patschuli und Sandelholz dringt in Ninas Nase und von dort sanft, aber bestimmt in ihr Bewusstsein. Es ist sein Duft. Der Geruch strömt über Ninas Sitzlehne. Er quillt durch den Spalt zwischen Ninas Sitz und dem des Cellos am Fensterplatz neben ihr. Er schleicht sich von links, vom Gang her, an. Er streckt den Kopf höhnisch grinsend zu Nina herein und kriecht über ihre Schulter in ihre Nase und mit jedem Atemzug tiefer in sie hinein. Sein Duft hat Nina aufgespürt. Jetzt, wo sie für drei Stunden im Hochgeschwindigkeitszug nach Paris sitzt, ist sein Geruch wie aus dem Nichts da. Als ob er Nina gesucht hätte. Um sie zu zwingen, sich an alles zu erinnern.

Nina war, als hätte er ihr nachgestellt, dieser Geruch nach Patschuli und Sandelholz, nach Zino Davidoff. Von der Frau ausgehend dringt er gewaltsam in ihre verschütteten Erinnerungen ein.

Nina hält die Luft an. Wie lange kann das Luftanhalten helfen? Der Duft ist ja längst in ihr. Die Duftmoleküle sind in ihrem Gehirn angekommen, sonst hätte sie den Geruch gar nicht erkannt und keine Gänsehaut bekommen. Die Zino-Moleküle zirkulieren in ihrem Blut, erreichen jede Zelle. Nina atmet wieder ein. Atmen muss sie ja.

Die Augen könnte ich vor deinem Gesicht, vor deiner Gestalt verschließen. Aber atmen muss ich dich. Womit habe ich deinen Duft angelockt? Ist es das Vergessen, das du nicht erträgst? Wenn meine Sehnsucht dein Lockstoff ist, dann findest du wohl noch den letzten übrigen Rest davon.

Es ist, als ob er wieder da ist und Nina ins Ohr flüstert, wie Mephistopheles dem Doktor Faust einst ins Ohr gewispert hat: ›Mich wirst du nicht los.‹

Die Haut dieser Frau wird morgen früh noch nach Patschuli und Sandelholz riechen. So anhaftend ist dieser Duft. Schon häufiger ist Nina aufgefallen, dass auch Frauen ihn tragen. Das ist noch schlimmer, als wenn ein anderer Mann danach riecht. Nina merkt, wie sie schneller und flacher atmet. Ihr wird ein wenig übel von diesem Geruch. Oder vom Hereinbrechen der Erinnerung, die sie nicht haben will.

Langsam und geräuschlos, damit es niemand merkt, atmet Nina tief aus und schließt die Augen. Mit ihrem nächsten Atemzug riecht sie ihn, als säße er neben ihr, als fixiere er sie mit eisigem Blick. Nina weiß – und sie weiß es sicher, weil sie es von Berufs wegen wissen muss – dass es keine bessere Methode gibt, um in die Vergangenheit zurückversetzt zu werden, als durch Duft.

Nina kann, wenn sie will, an Gewürznelken riechen und steht wieder auf einem Schemel am geöffneten Gewürzschrank ihrer Oma. Ein selbstgenähter, grün-beiger Vorhang mit roten Blumenornamenten verhängt das Reliefglasfenster der offenstehenden Schranktür. Nina öffnet ein Gewürzdöschen nach dem anderen. Sie atmet den intensiven Geruch von Rosmarin, den würzigen von Majoran und drückt das Tütchen mit den Zimtstangen, während sie den an Weihnachten erinnernden Duft einsaugt.

Wie nichts anderes sonst, vermag Duft die Zeit zurückzuholen. Er ruft die Sinneseindrücke ab, die es damals gab, Emotionen, Bilder, sogar Töne.

 

Nina schließt die Augen und reist zurück, nach innen.